Spagat einer Nacht
– Claudia und Dirk –
Die ersten Sonnenstrahlen mogelten sich schüchtern zwischen den Lamellen der Jalousie hindurch und verharrten abwartend auf den zerwühlten Kissen des Französischen Bettes. Auf der großen alten Eiche vor dem Fenster begann lauthals eine Amsel zu tirilieren.
Claudia gähnte herzhaft. Sie war hundemüde und ihre Augenlider waren schwer wie Blei. Sie zog es vor sie geschlossen zu halten. Gerade für eine Langschläferin wie sie, war die Nacht viel zu kurz um ausgeschlafen zu sein.
Langsam und schlaftrunken erschlichen sich die ersten Gedanken ihren Weg in Claudias Bewusstsein. Für einen Moment erschrak sie. Gab es diese Nacht mit Dirk tatsächlich oder hatte sie alles nur geträumt? Sie wendete den Kopf zur Seite. Es kostete sie einige Mühe ihre müden Augen auch nur einen Spalt weit zu öffnen. Kein Zweifel, sie war nicht allein. Dirks gleichmäßiger Atem streifte sanft ihr Gesicht und verriet, dass er noch schlief.
Mühsam versuchte Claudia ihre aufkommenden Erinnerungen an die vergangene Nacht zu sortieren. Der schale Geschmack im Mund erinnerte sie daran, am Abend zuvor viel zu viel getrunken zu haben. Der schwere Rotwein hatte mehr Wirkung entfaltet, als erwartet. Und auch Dirk war alles andere als nüchtern, erinnerte sich Claudia vage. Aber vielleicht gaukelte ihr doch nur ein zuckersüßer Traum vor, dass sie sich geliebt hatten? Vielleicht war es gar nicht so weit gekommen? Nein, die wahnsinnig erregenden Küsse bis an ihre intimsten Körperstellen, die für einen Mann unglaublich sanften Hände, die sich geschickt an ihrem Körper vorantasteten und sie schier an den Rand des Wahnsinns trieben … nein, so etwas konnte man nicht träumen.
Claudia überlegte: Ob Dirk mehr für mich empfindet, mich vielleicht sogar liebt? Ach, Unsinn!
So rasch wie dieser Gedanke auftauchte, schob Claudia ihn wieder beiseite. Es wäre töricht von ihr, das zu glauben. Männer konnten Sex und Liebe vortrefflich trennen. Außerdem hätte er ihr das gestern Nacht sicher gestanden, zumal er ohnehin die Kontrolle über sich verloren hatte. Er wird sie einfach anziehend gefunden haben und deshalb sexuell begehren. Männer tickten nun mal so.
Wie konnten wir uns nur so vergessen?, meldete sich Claudias Gewissen. Wenigstens ich hätte die Vernunft bewahren sollen.
Sie ärgerte sich, dass sie schwach geworden war. Aber wenn ihre Freundin Anja nicht zu diesem Seminar gefahren wäre, wäre nicht passiert, was passiert war. Dann hätte sie Dirk gar nicht gefragt, ob er Lust hätte, mit ins Kino zu kommen. Außerdem hatte sie sich auch nichts dabei gedacht, ihn nachher mit in ihre Wohnung zu nehmen, um noch ein wenig zu quatschen und ein Gläschen Wein zu trinken. Schließlich waren sie jahrelang befreundet und hatten das schon oft getan. Allerdings noch nie ohne Anja.
Zuerst hatten sie über Gott und die Welt philosophiert, erinnerte sich Claudia, und mit jedem Glas Wein wurde das Gespräch lockerer. Im Laufe des Abends kam es dann zu kleinen Neckereien und Annäherungen, die sie als sehr angenehm empfand. Sie hatte sich überhaupt keine Gedanken gemacht. Bisher war ihr Umgang miteinander immer nur freundschaftlicher Natur und Sex nie ein Thema gewesen. Jedenfalls schien es bis gestern keins gewesen zu sein. Sicher, die Sympathie zwischen Dirk und sich konnte sie von Anfang an nicht leugnen. Claudia übte auf viele Männer eine gewisse Anziehung aus. Aber sie waren sich einig, zwischen ihnen durfte nie mehr als Freundschaft sein, schließlich war er der Freund ihrer besten Freundin. Ihnen war klar, jede Überschreitung der Grenze würde die Freundschaft miteinander zerstören.
Warum hatten sie trotzdem diese fremde Welt betreten, die eigentlich nicht für sie bestimmt war? Warum hatte sie das zugelassen? Claudia war sich sicher, im Grunde genommen lag es an ihr. Sie war die Frau, und wenn sie es nicht gewollt hätte, dann wäre nichts geschehen.
Okay, sie hatte zu viel getrunken, aber genügte das als Entschuldigung?
Natürlich wird Dirk jetzt denken, dass das gegenseitige Versprechen nur eine Floskel für mich war, durchfuhr es Claudia.
Er wird mich für eine Frau halten, die mit jedem Mann ins Bett geht, wenn ihr danach ist. Schlimmer noch, er wird annehmen, dass ich Anjas Reise ausgenutzt und das geplant hatte.
Claudia kam sich ziemlich mies vor, als sie an Anja dachte. Außerdem hatte sie sich irgendwann einmal geschworen niemals mit einem Mann zu schlafen, den sie nicht liebte. Sie hatte immer geglaubt, für diesen Schritt müssten bei ihr große Gefühle vorhanden sein. Aber Dirk war nur ein Freund, ein Kumpel. Mehr nicht. Sollte sie sich irren?
Claudia horchte in ihren Bauch hinein und versuchte darin flatternde Gefühle zu entdecken. Völlig egal war ihr Dirk eigentlich noch nie gewesen. Doch genügte das schon ihre Prinzipien über Bord zu werfen? Das war eigentlich nicht ihr Stil.
Okay, Dirk sah toll aus. Das, was ihn ausmachte, war eine Mischung aus Männlichkeit und Sanftheit. Sein Körper war ästhetisch und strahlte knisternde Erotik aus, auch wenn er den kleinen Bauchansatz nicht verleugnen konnte.
War es ihre Neugier und die Stimmung, die sie alle Vorsätze vergessen ließ? Oder die ungestillte Sehnsucht nach Zärtlichkeit? Viel zu lange hatte sie darauf verzichtet. Ihre Beziehung zu Martin lag ein Jahr zurück und sie vermisste natürlich Geborgenheit und Streicheleinheiten.
Und wenn Claudia ehrlich zu sich war, dann empfand sie tief in Ihrem Inneren mehr für Dirk, als sie zugeben wollte. Das hatte sie überdeutlich gespürt, als er ihr nahe war. Sie hatte es nie zugelassen, ihre Gefühle versteckt, weil sie niemandem wehtun wollte, am wenigsten sich selbst. Außerdem hatte sie sich viel zu sehr auf Dirks Versprechen verlassen, ihr nicht zu nahe zu kommen. Dabei wusste sie, dass man einen Mann, der einmal richtig in Fahrt gekommen ist, nicht einfach ausschalten kann, wie ein Radio. Und irgendwann zog sich bei Männern ja dann bekanntlich schrittweise der Verstand zurück.
Es wäre also an ihr gewesen, Dirk zu stoppen. Ja, es überhaupt nicht erst zu Annäherungen kommen zu lassen. Aber irgendwie war ihr das nicht gelungen. […]
… weiter geht es im Buch.
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